Anlässlich des 75. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs veranstaltete das Haus der Europäischen Geschichte eine Live-Debatte zum Thema "Das Europa, das 1945 entstand", in der sowohl die unmittelbaren als auch die langfristigen Auswirkungen des Krieges beleuchtet wurden. Wir haben vier Redner aus ganz Europa eingeladen, um über die politische Landschaft in Europa nach dem Krieg sowie über die Ängste und Hoffnungen der verschiedenen Gesellschaften zu sprechen. Im Verlauf der Debatte wurden die Zuschauer aus aller Welt aufgefordert, ihre Fragen an die Podiumsteilnehmer zu stellen, was unter anderem einige faszinierende Diskussionen über Gender und den Kalten Krieg im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg eröffnete.

Der Jahrestag des Endes des Krieges in Europa ist eine komplexe Angelegenheit. Während dieser Anlass uns als Europäer theoretisch eint, trennt er uns auch aufgrund der unterschiedlichen Arten und Daten, mit denen wir diesem Ereignis auf nationaler Ebene gedenken. Die unterschiedlichen Formen des Gedenkens an den Tag des Sieges wurden in der Debatte besonders deutlich, als Professor Olga Malinova von der Nationalen Forschungsuniversität Higher School of Economics in Moskau erklärte, dass der 9. Mai in der Sowjetunion lange Zeit kein nationaler Feiertag war, weil man dem Sieg aufgrund des Traumas nur schwer und ungern gedachte. Daher wurde der Tag des Sieges von den sowjetischen Bürgern eher im privaten Rahmen begangen. Da die Kämpfe in Slowenien noch bis zum 15. Mai andauerten, wird der Tag des Sieges auch in Slowenien anders begangen.

Europa in Trümmern

Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, lag Europa in Trümmern. Ganze Städte mussten wieder aufgebaut werden, ebenso wie die gesellschaftliche Infrastruktur. Für ein modernes Publikum vielleicht weniger offensichtlich ist das emotionale Trauma, das der Krieg verursacht hat. Familien wurden entwurzelt und getrennt, die Rationierung ließ die Menschen hungern, und in weiten Teilen Europas herrschte Obdachlosigkeit. Im Laufe der Debatte wies Professorin Tatjana Tönsmeyer von der Universität Wuppertal darauf hin, dass diese Umstände während der gesamten Besatzungszeit zu emotionalen Konflikten bei den Menschen führten. Als der Krieg zu Ende ging, empfanden die Menschen auf dem gesamten Kontinent Gefühle der Freude und des Glücks, aber gleichzeitig kamen auch Gefühle des Traumas, der moralischen Panik und sogar der Rache zum Vorschein. Die Komplexität dieser Gefühle erschwerte die emotionale Genesung und Heilung in der Zeit nach dem Krieg.

Interessanterweise führte diese emotionale Tortur auch zu starken Bindungen in ganz Europa. Professor Pieter Lagrou von der Université Libre de Bruxelles stellte fest, dass eines der Ergebnisse des Krieges die starken, gemeinsamen Bindungen zwischen den vertriebenen Flüchtlingen waren. Flüchtlinge aus ganz Europa fühlten plötzlich eine tiefe Verbindung zueinander. Eine Verbindung, die sie ohne ihre gemeinsamen Erfahrungen und Traumata nicht gekannt hätten.

Die Rolle der Frauen

Auf die Frage nach der Rolle der Frauen während des Krieges wies Professor Tatjana Tönsmeyer darauf hin, dass es während des Krieges auf lokaler Ebene in der Gesellschaft einen sehr deutlichen Mangel an Männern gab. Ob die Männer nun zum Militär eingezogen oder im Ausland inhaftiert waren, sie waren mehr oder weniger aus den zivilen Gesellschaften in ganz Europa verschwunden. Infolgedessen übernahmen Frauen Arbeiten, die traditionell von Männern ausgeführt wurden, wie z. B. körperliche Arbeit. Ob der Krieg tatsächlich eine echte Emanzipation für die Frauen mit sich brachte, ist umstritten.

Es bestand die starke Erwartung, dass aus den Kriegsanstrengungen aller Bürger eine gerechtere Gesellschaft hervorgehen sollte, weshalb eine Umstellung auf die Sozialwirtschaft stärker unterstützt wurde. In vielen Ländern herrschte Einigkeit darüber, dass nur ein starker Staat den Weg durch die Krise und den Wiederaufbau Europas weisen könne. Regierungen aus dem gesamten politischen Spektrum unterstützten im Allgemeinen einen stärkeren Staat. Nach Jahren der Knappheit und Rationierung nahmen Sozialprogramme zu, da die Länder darum kämpften, wieder Fuß zu fassen und für ihre Bürger zu sorgen. Dies legte den Grundstein für eine gerechtere Gesellschaft in Europa.

Covid im Kontext des Zweiten Weltkriegs

Auf die Frage nach den Ähnlichkeiten zwischen den Nachkriegsjahren und der aktuellen Situation in Europa im Umgang mit der COVID-19-Pandemie stellte das Podium fest, dass eine der Ähnlichkeiten das Vertrauen in einen starken Staat ist. Regeln und Vorschriften werden akzeptiert, während die europäischen Regierungen mit der anhaltenden Pandemie umgehen, aber da die Situation allmählich unter Kontrolle kommt, wachsen die Sorgen über die Einschränkungen der persönlichen Freiheit. Da Europa nicht nur seine Gesellschaften und Grenzen langsam öffnet, wird die Bedeutung von Strategien und Planung deutlich – ein weiterer Gedanke, der an die Nachkriegsjahre erinnert.

In ihren abschließenden Bemerkungen stellte Professor Pieter Lagrou fest, dass die Menschen seit 1945 auf denselben großen Moment des Umbruchs warten, der der Welt einen Neuanfang ermöglichen würde. Die aktuelle Pandemie könnte in gewisser Weise die Gelegenheit für einen neuen Dialog zwischen den europäischen Gesellschaften und dem Staat bieten und einen ähnlich nachhaltigen Einfluss auf unsere Geschichte haben wie der Zweite Weltkrieg.